Die Zerreißprobe moderner Beziehungen – Zwischen digitaler Bestätigung, Selektionsdruck und kultureller Pathologie

Digitale Nähe, psychische Distanz – wie Ghosting, Vergleichskultur und die Ökonomie der Sichtbarkeit unsere mentale Gesundheit zerstören.

Das Kennenlernen im 21. Jahrhundert ist nicht länger ein privates, organisches Ereignis, sondern eine Funktion globalisierter Kommunikations- und Überwachungssysteme. Digitale Plattformen haben eine neue Logik der Begegnung etabliert: an die Stelle der offenen Möglichkeit tritt die algorithmisch strukturierte Auswahl, an die Stelle der Begegnung auf Augenhöhe die Ökonomie des Sichtbaren. In dieser Ökonomie werden Subjekte nicht nur zu Konsumenten, sondern auch zu Waren – bewertet, verglichen, selektiert.

Ghosting und das Schweigen der Macht

Das „Ghosting“ ist nicht nur ein psychologisches Symptom, sondern Ausdruck einer tiefer liegenden kulturellen Pathologie. In der Logik von Foucaults Machtanalysen lässt sich Ghosting als Technik der Disziplin verstehen: Das Schweigen entzieht dem Anderen nicht nur die Möglichkeit zur Antwort, sondern markiert ihn zugleich als „nicht mehr existent“. Es ist die ultimative Form sozialer Unsichtbarmachung, die aus der neoliberalen Logik der Effizienz geboren ist – wer nicht in das Begehren passt, wird eliminiert, ohne dass eine Auseinandersetzung nötig wäre.

Die Dialektik der Anerkennung

Adornos Kulturkritik hilft zu verstehen, warum digitale Anerkennung so zerstörerisch wirken kann. In der „Dialektik der Aufklärung“ wird deutlich, wie das Subjekt in modernen Gesellschaften nicht durch Befreiung, sondern durch Anpassung integriert wird. Likes und Reaktionen sind nicht Ausdruck von Freiheit, sondern Signaturen der Konformität. Sie bestätigen nicht das individuelle Sein, sondern die Einordnung in eine Ordnung des Immer-Gleichen. Wer keine Bestätigung erhält, wird nicht nur abgewertet, sondern erlebt sich selbst als überflüssig. Hier liegt die Quelle der permanenten Unzufriedenheit: Das Subjekt wird zum abhängigen Objekt der Anerkennungsindustrie.

Die Transparenzgesellschaft

Byung-Chul Han beschreibt in seiner „Transparenzgesellschaft“, wie der Zwang zur Sichtbarkeit zur totalen Kontrolle führt. Innerhalb der LGBTQ-Community bedeutet dies eine permanente Inszenierung von Attraktivität und Begehrlichkeit. Die Körper werden zu Projekten, die in der Logik des Marktes optimiert werden müssen. Sichtbarkeit ist hier nicht Befreiung, sondern Verpflichtung. Wer nicht mithalten kann, fällt aus der Sichtbarkeit – und wird sozial unsichtbar.

Exotik und der Fetisch des Anderen

Die verstärkte Faszination für bestimmte kulturelle oder ethnische Gruppen, etwa die Fixierung auf lateinamerikanische Männer in Teilen der deutschen LGBTQ-Community, lässt sich im Sinne Edward Saids als Fortsetzung des „Orientalismus“ verstehen: Das Andere wird zur Projektionsfläche von Begehren und Sehnsucht, jedoch nie als eigenständiges Subjekt anerkannt. Es geht nicht um Begegnung, sondern um Konsum. Dieser Mechanismus verschärft die Entfremdung, weil er Begegnungen auf den Fetisch des Unterschieds reduziert.

Vergleich, Überforderung und psychische Zersetzung

Die soziale Vergleichstheorie (Festinger, 1954) erhält im digitalen Raum eine neue Qualität: Der Vergleich ist nicht mehr situativ, sondern permanent. Byung-Chul Han spricht hier von der „Müdigkeitsgesellschaft“, in der Subjekte durch den endlosen Druck zur Selbstoptimierung in Erschöpfung und Depression getrieben werden. Empirische Studien (Twenge et al., 2017; Keles et al., 2020) bestätigen, dass exzessiver Social-Media-Konsum mit steigender Depressivität korreliert. Das Subjekt wird durch die permanente Vergleichbarkeit seiner selbst entfremdet – und verliert die Fähigkeit, Ablehnung oder Scheitern als produktive Momente zu begreifen.

Zwischen Anpassung und Widerstand

Was bleibt, ist die Frage nach dem Ausweg. Philosophie und Psychologie deuten darauf hin, dass es nur zwei Wege gibt: Anpassung an die Logik der Sichtbarkeit – mit allen Folgen für die psychische Gesundheit – oder die bewusste Entscheidung zum Widerstand. Dieser Widerstand kann in der Praxis der Achtsamkeit liegen, in der Rückkehr zum Lokalen, im Aufbau von Gemeinschaften jenseits der digitalen Vergleichsmaschine. Widerstand bedeutet in diesem Kontext, den Mut zur Unsichtbarkeit zu kultivieren – gegen den Imperativ der permanenten Transparenz.